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Max Bill – un regard absolu

(Max Bill – das absolute Augenmass)

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Max Bill – Omaggio nel centenario della nascita

11 agosto – 28 settembre 2008

Testo: Max Bill e i suoi legami con il Ticino (italiano, PDF)


ERICH SCHMID

Max Bill und seine Links zum Tessin

Ausstellung zum 100. Geburtstag in der Casa Rusca

Ernst Geiger
Max Bills erste Berührung mit dem Tessin geht auf das Jahr 1927 zurück, als er seinen Mentor und damals berühmten Maleronkel Ernst Geiger in Porto Ronco besuchte, der direkt am Lago Maggiore beim kleinen Hafen ein Haus für sich erworben hatte, das allerdings in den 80er Jahren abgebrochen wurde. Von Porto Ronco aus nahm Ernst Geiger seinen Neffen und Schüler Max Bill mit zur Max Bill ca.1927Künstlersiedlung Fontana Martina, wo in den 30er Jahren mehrere berühmte Flüchtlinge Zuflucht fanden, darunter Carl Meffert (Clément Moreau), Secondo Tranquilli alias Ignazio Silone und Heinrich Vogeler. Max Bill hatte damals in Porto Ronco eines seiner ersten Aquarelle gemalt mit Blick auf das Dorf.

Seine letzte wichtige Begegnung mit dem Tessin hatte Max Bill gut 60 Jahre später, als er selber 1991 in der Casa Rusca eine umfassende Retrospektive seines Werks einrichtete, die ihm persönlich sehr viel bedeut hat, da es auch für den gewieften Gestalter eine grosse Herausforderung war, die für Ausstellungen generell eher schwierigen Räume optimal zu nutzen.

Zwischen der ersten und der letzten Begegnung hat Max Bill mit seinen Werken, in seinen Funktionen und mit seinen Lehraufträgen die ganze Welt bereist. Dem Tessin, einem der attraktivsten Einwanderungskantone der Schweiz, ist er jedoch der Menschen wegen treu geblieben, die hier mehr oder weniger freiwillig eine neue Heimat gefunden hatten, Taeuber/Arpdarunter das Künstlerpaar Sophie Taeuber und Jean Arp, das in den 20er Jahren in Pura geheiratet hatte, dann Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin, denen in den 30er Jahren in Comologno die Villa La Barca gehörte, später auch der Komponist Wladimir Vogel, der zuerst in der Barca wohnte, sich dann in Rosenbaums Frau Aline verliebte und sich mit ihr ab 1939 in Ascona niederliess.

Diese Menschen hatten alle Max Bills Biografie in ganz verschiedener Weise entscheidend mitgeschrieben. Sophie Taeuber und Jean Arp hatten ihn 1933 in Paris in die Künstlergruppe “abstraction création“ eingeführt, wo Bill die ganz grossen Konstruktiven wie Piet Mondrian sowie Georges Vantongerloo kennenlernte, mit dem er zeitlebens eng befreundet blieb.

Sophie Taeuber Arp war 1943 im Haus von Max und Binia Bill in Zürich-Höngg gestorben. Zu ihrem 40. Todestag richtete die Kunsthistorikerin Angela Thomas, später Bills zweite Ehefrau, 1983 eine Einzelausstellung im Museo Communale in Ascona ein, und Max Bill gestaltete den Katalog, die Einladung und das Plakat dazu. Wladimir Rosenbaum hielt eine Rede und Aline Valangin sass im Publikum.

Ein lange politische Freundschaft

Wladimir Rosenbaum war ein politischer Freund von Max Bill. Bevor jener ins Tessin emigrierte, um Antiquar in Ascona zu werden, wurde er – übrigens ähnlich wie Max Bill – als schwererziehbarer Junge zur Besserung in eine Internatsschule geschickt: Bill in ein Schülerheim im zürcherischen Oetwil am See und Rosenbaum in das thurgauische Internat Glarisegg, wo sich aus demselben Grund auch (der spätere Schriftsteller) Friedrich Glauser befand. Bill hatte an einem Kiosk Romanheftchen geklaut, Rosenbaum, mit zwölf Jahren von seinen russischen Eltern wegen antisemitischer Pogrome in Minsk nach Lausanne gebracht, ertrug es nicht, dort als Jude ebenfalls benachteiligt zu werden und begann in der Pubertät heftiger zu rebellieren als üblich.

Trotzdem (oder gerade deswegen) haben die beiden auf ihren Gebieten Herausragendes vollbracht. Aus Max Bill sollte der berühmteste Student des legendären Bauhauses in Dessau werden, der kurz vor seinem Tod noch mit dem „Nobelpreis der Künste“, dem japanischen Praemium Imperiale, und (nach der Uni Stuttgart) mit dem (zweiten) Ehrendoktor der ETH Zürich ausgezeichnet wurde. Getroffen hatte er Wladimir Rosenbaum erstmals nach seiner Rückkehr aus Dessau Anfang der 30er Jahre, als die faschistischen Fröntler in der Schweiz einen ähnlichen Zulauf hatten wie die lauten Rechtspopulisten von heute. Rosenbaum machte gerade eine steile Karriere als Anwalt in Zürich und finanzierte eine antifaschistische Zeitschrift, die der aus Italien geflüchtete Romancier Ignazio Silone redigiert und Max Bill gestaltet hat. Zudem war Rosenbaum Genossenschaftspräsident der Wohnsiedlung „Neubühl“, der ersten grossen Überbauung im Stil des neuen Bauens in Zürich, wofür Max Bill die Werbegrafik übernahm. So musste Bill aus nächster Nähe miterleben, wie die damalige „Zürcher Volkszeitung“ schon bald mit fremdenfeindlichen Parolen gegen das Neubühl als Emigrantenhort hetzte und Wladimir Rosenbaum persönlich angriff.

Rosenbaum vertrat seinerseits grosse internationale Petrolgesellschaften und kam zu Reichtum, mit dem er den Baumwollhof beim Stadelhofen in Zürich und die Barca in Comologno erwarb. In beiden Häusern trafen sich in den 30er Jahren eine kulturelle Elite von Max Ernst über Ignazio Silone bis Ernst Toller und Kurt Tucholsky. Der mittellose deutsche  Surrealist Max Ernst (der damals in Frankreich im Exil lebte und auf der schwarzen Liste der Gestapo stand) malte 1934 gegenüber dem Baumwollhof das berühmte Wandbild im Corso-Theater (für das Max Bill die Beschriftung machte) und wohnte damals vorübergehend im ersten Wohn- und Atelierhaus von Max und Binia Bill in Höngg. Rosenbaum sorgte dafür, dass Max Ernst für damalige Verhältnisse recht grosszügig mit 1000 Franken honoriert wurde.

Attentatsplanung und ein Toter in Comologno

Im gleichen Jahr wollten Max und Binia Bill nach Comologno fahren. Max Ernst sollte ihr Haus hüten, doch dieser stieg einfach in den Wagen und fuhr mit. Max Bill in ComolognoIn der Barca planten dann die beiden Maxen gemeinsam ein politisches Attentat auf den nationalsozialistischen Religionswissenschaftler Wolfgang Hauer (1881-1962), der in Ascona an einer Eranos-Tagung im Umfeld des Psychiaters C. G. Jung teilgenommen hatte. In Allegorie auf die Bibel wollten Max Bill und Max Ernst über die Kleider des Opfers Pech ausgiessen und es anschliessend mit Federn bestreuen. Gleichzeitig sollte die Aktion fotografiert und in der New York Times publiziert werden.

Bill und Ernst weihten auch Wladimir Rosenbaum ein. Bei diesem Gespräch abends am Kamin der Barca war auch der österreichische Rechtsanwalt und Schriftsteller Walther Rode dabei, der interveniert haben soll: „Das dürft ihr mit diesem Mann nicht machen.“ Er sei auf wissenschaftliche Weise zu seinen Erkenntnissen gekommen, und wenn er diese nun vertrete, dann sei das seine Sache; es werde ja vielleicht einmal nachgewiesen, dass das alles nicht stimme, aber er solle das erzählen dürfen.

Schliesslich gelang es dem laut Gastgeberin Aline Valangin „mit drolligen Ausdrücken im Wienerton“ sprechenden Anwalt, die beiden Künstler und potenziellen Attentäter von ihrer Performance abzuhalten. Einige Tage nach diesem Gespräch lud Aline Valangin zum Tanzfest ein, das sie alle Jahre einmal mit der Dorfjugend feierte. Rode, der an diesem Tage lange mit Rosenbaum Schach gespielt hatte, tanzte mit einem schönen Tessiner Mädchen, das in der Tracht und in Holz-Zoccoli erschien, war sofort vernarrt in die liebliche Erscheinung und neckte sie auf galante Art, sie werde noch ihre Schuhe verlieren, wenn sie so weitertanze; er warte bloss darauf. Sie soll vergnügt zurückgegeben haben, das komme niemals in Frage. Die Hänselei ging hin und her, erfasste bald die andern, und dann wurde darüber gewettet. Es war spät geworden, gegen Mitternacht. Plötzlich sei das Mädchen aus seinen Zoccoli herausgerutscht und habe barfuss weitergetanzt. Rode habe gejubelt und gerufen: „Finalmente, endlich!“ Mit diesen Worten sei er unmittelbar neben Max Bill tot umgefallen. Es war der 12. August 1934.

Max Ernst und Bill legten den Toten in der Bibliothek auf einen Tisch. Eigentlich hatten die Gastgeber Max Ernst Bibliotheksrestriktionen auferlegt, weil sie wussten, dass er gerne aus den Büchern Seiten mit Abbildungen herausriss, denn solche Abbildungen verwendete Ernst für seine berühmte „Une Semaine de Bonté“. Doch Max Ernst hatte Aline Valangin versprochen, davon abzusehen, und zu dieser Stunde war sie mit Wladimir Rosenbaum schon ausser Haus, um die Witwe von Walther Rode von dessen Schicksal zu benachrichtigen.

Ein paar Tage darauf fuhr Max Ernst nach Ascona, traf dort zufällig die erst 20-jährige Künstlerin Meret Oppenheim und nahm sie mit in die Barca. Sie soll umwerfend schön und eine Augenweide für alle Anwesenden gewesen sein. Doch oft bekam man die beiden dann offenbar nicht zu Gesicht, da sich die frisch Verliebten sofort ins Turmzimmer zurückgezogen hatten und kaum mehr aus dem gemeinsamen Bett herausfanden. Jedenfalls sprach Meret Oppenheim später über ihre zwei Jahre lang anhaltende Beziehung zu Max Ernst von einer „leidenschaftlichen Liebe auf beiden Seiten“.

Max Ernst, Meret Oppenheim und Ernst Bloch

Nach seinen Ferien im Tessin kehrte „Dadamax“ Ernst ohne Meret Oppenheim mit Max Bill, der erneut nach Comologno gefahren war, mit dem Wagen zurück nach Zürich. Dabei fuhren sie übers Bergell, um dort den Philosophen Ernst Bloch, der Bill zuvor schon einmal im Höngg besucht hatte, noch einmal in Maloja zu treffen. Es war kurz vor der amtlichen Ausweisung Blochs aus der Schweiz im September 1934, der mit seiner Frau Carola anschliessend über Prag nach Amerika flüchtete. Nach dem Tod von Ernst Bloch, der nach Kriegsende zuerst nach Ostdeutschland zurückkehrte, dann in Tübingen unterrichtete, schuf Max Bill an dessen Geburtsort in Ludwigshafen am Rhein eine hohe Granitskulptur mit dem Titel „endlose treppe – monument für ernst bloch“. Es war die Fortsetzung des Themas der mathematischen Unendlichkeit, angelehnt an die berühmte Erkenntnis von Albert Einstein, dass der Raum, wissenschaftlich betrachtet, keine Begrenzung kennt, sondern immer wieder in einen anderen Raum übergeht – diese Erkenntnis hatte Max Bill immer wieder umgesetzt in ein künstlerisches Werk: 1936 hatte er mit „der endlosen schleife“ begonnen, und mit der Umsetzung in Ludwigshafen hat Ernst Blochs philosophisches Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ 1988 die letzte räumliche Form angenommen, die Max Bill zu diesem Thema geschaffen hatte.

Das Kabarett „Der Krater“

Über die Art und Weise, wie Max Bill das engere und weitere Umfeld der Barca kennengelernt hatte, ist nichts Genaues bekannt, aber man kann annehmen, dass die Kontakte des ehemaligen Bauhaus-Studenten ganz am Anfang über das moderne Bauen in Zürich liefen und über den Architekten Ernst F. Burckhardt, der zur gleichen Zeit wie Max Bill Mitglied des Zürcher Kabaretts „Der Krater“ war. Der Krater war ein Vorläufer der berühmteren Kabaretts Pfeffermühle und Cornichon. Im Krater spielten damals auch Emil Hegetschweiler, Katja Wulff und C. F. Vaucher, der wie der französische Schriftsteller Jean-Paul Samson Stücke schrieb. Samson war später Übersetzer des Textes  von Max Bill zu dessen berühmten „quinze variations sur le mème thème“ ins Französische, die 1938 in Paris bei Murlot gedruckt wurden.

CorsoE. F. Burckhardt kommt als Umbau-Architekt des Corso-Theaters, auch als Mitanreger der Auftragsvergabe sowohl an Max Ernst für dessen Wandbild wie auch für Max Bills heute noch in der Nacht feuerrot über den Zürichsee leuchtenden Schriftzugs auf dem Dach des Hauses und der einzigartigen, aus kreisrunden Teilelementen bestehenden „corso“-Typografie in Frage, die zeitlos geblieben ist und die nach wie vor für die Gestaltung der Corso-Kinotrailer benutzt wird. 

Samson wiederum sollte im Leben von Wladimir Rosenbaum eine undurchsichtige Rolle spielen, indem er als Franzose vermutlich jene Kontakte herstellte, die dem berühmten Anwalt zum Verhängnis wurden. Rosenbaum fungierte während des spanischen Bürgerkriegs als Mittelsmann für Waffenlieferungen an die antifaschistischen Republikaner. Deswegen wurde er 1938 zu viermonatiger Einzelhaft verurteilt und sein Anwaltspatent wurde ihm lebenslänglich entzogen.

Es konnte wohl nicht nur sein Verstoss gegen die damalige Verfügung des Bundesrates, die den Waffenhandel mit Staaten im Krieg verbot, gewesen sein, die Rosenbaum die Existenzgrundlage entzog, denn kurz darauf, während des 2. Weltkrieges, hatte die Schweizer Industrie, u. a. Bührle, Saurer und SIG, durch ihre Waffenverkäufe an Nazideutschland Riesengewinne eingefahren. Die Waffenhandel-Verfügung, nicht zu vergleichen mit dem heutigen Kriegsmaterialgesetz, wurde offensichtlich je nach Kriegspartei einmal so und einmal anders angewendet.

„Ich bin der Jude Rosenbaum“

Vielmehr musste Rosenbaum in jenem einflussreichen Teil des schweizerischen Establishments, das offene Sympathien für den Faschismus zeigte (wie auch die Mehrheit des damaligen Bundesrats), aus mehreren Gründen eine ungeliebte Projektionsfigur gewesen sein: Rosenbaum war ursprünglich Russe, trug einen russischen Vornamen und war Jude. Wladimir RosenbaumDazu stand er so offen, dass er einmal auf einem Ball der „haute bourgeoisie“ im weissen Schloss am See einem Zürcher Zünfter, der lauthals antisemitische Parolen verbreitete, vor allen Leuten eine schallende Ohrfeige versetzte. 

Dass Max Bill diesem Mann, der alles verloren hatte und sich in Ascona in der Casa Serodine aus dem Nichts als Antiquar ein neues Leben aufbauen musste, regelmässig Patisserie ins Bezirksgefängnis nach Pfäffikon ZH gebracht hatte, war, biografisch betrachtet, eigentlich nichts anderes als eine typische Geste.

Nochmals eine Ehre, die letzte, erwies Max Bill seinem Freund Wladimir Rosenbaum mit der Abdankungsrede im Jahr 1984. Dazu fanden sich in Bills Bibliothek Handnotizen zu einer Anrede, die Rosenbaum im Prozess, der ihn ruiniert hatte, im Gerichtsaal hielt. Bill zitierte im Hof der Casa Serodine: „Herr Obmann, meine Herren Geschworenen, der Staatsanwalt hat mich jeweilen bezeichnet als Herr Rosenbaum aus Zürich. Meine Herren, ich bin nicht Herr Rosenbaum aus Zürich. Meine Herren, ich bin der Jude Rosenbaum aus Litauen. Ich bin der Papierschweizer Rosenbaum“.

Notiz Max Bill zur Abdankung W. Rosenbaums


Wie so oft bei materiellen Schicksalsschlägen ging dann auch die Ehe von Wladimir Rosenbaum zu Bruch. Aline Valangin verliebte sich in den Komponisten Wladimir Vogel und zog mit ihm nach Ascona, wo Max Bill als Architekt für die beiden das „Haus für ein Künstlerpaar“ entwarf, das allerdings nicht zur Ausführung kam. Bald darauf hatte Bill Wladimir Vogel beauftragt, die Eröffnungsmusik für die Hochschule für Gestaltung in Ulm zu komponieren, von der noch die Rede sein wird. Zudem widmete Vogel Bill eine Komposition, und Bill schuf für Vogel eine Grafik.

„Max Bill hat mir immer zu essen gegeben“

Milano 1936: Max Bill richtet im Auftrag der Schweizer Regierung im faschistischen Italien den Schweizer Pavillon an der Triennale ein und nutzt die Gelegenheit, Bücher eines von Mussolinis Schergen meistgesuchten Silone und BillSchriftstellers auszustellen: Secondo Tranquilli (*1900 Pescina) alias Ignazio Silone, der in den Abruzzen aufgewachsene Mitgründer der italienischen kommunistischen Partei, der allerdings schon bald aus der KPI/PCI ausgeschlossen wurde und politisch zwischen Stuhl und Bank gefallen war.  

In Milano lernte Max Bill sofort die antifaschistischen Architekten des neuen Bauens, das Studio BBPR, kennen: Lodovico di Belgoijoso, G.C.Banfi, Enrico Peressutti und Ernesto Nathan Rogers. Zwei der Mitglieder, Belgoioso und Banfi kamen ins KZ, wo Banfi ermordet wurde. Sein Freund Belgoijoso hatte diese Erlebnisse erst sehr spät in einem Buch mit dem Titel Notte, Nebbia, Raconto di Gusen (Ugo Guanda Editore, Parma 1996) publiziert. Während Rogers Vater ebenfalls im KZ umkam, konnte sich Ernesto Nathan in die Schweiz retten und wurde in Bills Geburtsstadt Winterthur in einem Lager interniert. Rogers war später der Herausgeber des berühmten Magazins „Domus“ und schrieb auch immer wieder über Max Bill, auch in lateinamerikanischen Publikationen. Ernesto Nathan Rogers schätzte an Bill nicht nur dessen „Imagination und Intelligenz“, sondern auch seine „moralische Willensstärke“: „bill non possiede soltanto immaginazione e intelligenza, ma oltre a queste, e unita a queste, una terza qualità: una forza di volontà morale.” 

Bei ihren Recherchen in diesem Umfeld lernte Angela Thomas, die Witwe von Max Bill, erst kürzlich einen ehemaligen Partisanen aus der Republik Ossola kennen, Angelo Mangiarotti, der als erstes zu ihr sagte: „Max Bill hat mir damals immer zu essen gegeben“. Aus dessen Erinnerungen geht hervor, dass sich unter den etlichen Verfolgten, die sich in Max und Binia Bills Haus in Höngg eingefunden hatten, auch italienische Partisanen befanden.

Im Fadenkreuz der Staatsschutz-Organe

Max Bill war in seinem Leben politisch nicht ganz harmlos. Immerhin beobachtete ihn der schweizerische Staatsschutz mehr als ein halbes Jahrhundert lang lückenlos. Was einen dabei aufatmen lässt, im Nachhinein, ist der Umstand, dass Bill insofern immer auf der richtigen Seite stand, als ihm die Geschichte jedes Mal recht gegeben hat. Er war in ganz jungen Jahren ein militanter Antifaschist der ersten Stunde, er arbeitete schon während des Krieges am künftigen Wiederaufbau, auch am geistigen, er protestierte im kalten Krieg umgehend gegen die atomare Aufrüstung, er war Erstunterzeichner des prominentesten Aufrufs gegen den Vietnamkrieg in der New York Times 1965, und er plädierte schon in den 50er Jahren für eine Umweltgestaltung, die eine taugliche Basis war für den heute verlangten Umweltschutz. Sein Leben, aber auch sein kreatives Schaffen verstand er immer politisch. Auch wenn er ein Bild male, meinte er, male er es für die Öffentlichkeit und vertraue es der Gesellschaft an. Jede(r) Einzelne stehe in einer gesellschaftlichen Verantwortung. 

Flüchtlinge versteckt

Bills polizeiliche Observierungen begannen im Oktober 1936, nachdem er den in Nazideutschland verfolgten und in der Schweiz untergetauchten Journalisten Alfred Thomas bei sich zu Hause versteckt hatte. Thomas hatte für eine antifaschistische Nachrichtenagentur gearbeitet und hatte sein Beziehungsnetz im Umfeld des Schauspielhauses Zürich, das ein Zufluchtsort war für zahlreiche prominente Flüchtlinge wie Therese Giese, Leopold Lindtberg, Teo Otto, Kurt Hirschfeld und Karl Paryla. Alfred Thomas wurde aufgrund eines anonymen Schreibens an die Stadtpolizei Zürich, das ihn als illegalen Emigranten denunzierte, verhaftet, und zwar in der Wohnung des Schauspieler-Ehepaars Paryla. Bei den Verhören verweigerte Thomas jede Aussage. Doch dann drohte die Polizei den Parylas mit der Ausweisung aus der Schweiz, falls sie nicht bekannt geben würden, bei wem und wo Alfred Thomas wohne. Auf diese Weise erfuhren die Behörden, dass Thomas bereits mehr als ein halbes Jahr im Gästezimmer des damaligen Wohn- und Atelierhauses von Max Bill in Zürich-Höngg Unterschlupf gefunden hatte. Alfred Thomas wurde mit Beschluss der Landesregierung im Mai 1936 ausgeschafft. Sein Schicksal blieb unbekannt, und Max Bill erhielt eine, wie es in den Akten heisst, "gesalzene Busse", da er ein notorischer Wiederholungstäter war und schon öfter Verfolgte aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien bei sich beherbergt hatte, ohne sie ordentlich bei der Einwohnerkontrolle zu melden. (Hätte er sie angemeldet, wären sie ebenfalls ausgeschafft worden).

Es wohnten bei ihm und seiner Frau Binia unter anderen zeitweise schon der ehemalige Bauhausschüler Roman Clemens; ferner Max Ernst, während er wie bereits erwähnt, im Corso jenes Wandbild malte, das später abgetragen und ins Kunsthaus Zürich disloziert wurde; sowie der deutsche Künstler Friedrich Vordemberge-Gildewart mit seiner jüdischen Frau Leda, bevor diese beiden weiter nach Amsterdam emigrierten.

Bills Typografie des geistigen Widerstands

Über seine antifaschistischen Aktivitäten im Untergrund, an denen sich auch andere namhafte Schweizer Künstler beteiligten, hat Max Bill kaum je gesprochen, öffentlich schon gar nicht. Bill leistete jedoch im geistigen Widerstand der 30er Jahre in der Schweiz einen beträchtlichen typografischen Beitrag. Er gestaltete vor allem für den Verlag von Emil Oprecht in Zürich, der die Literatur der meisten Exil-Schriftsteller publizierte, Kataloge und Bücher. Bei Büchern, die über die Konzentrationslager informierten und nach Nazideutschland geschmuggelt wurden, verwendete Bill für die Umschläge alte runenähnliche Schrifttypen, damit sie nach aussen nicht auffielen. Die Typografie (Anm.1) der damals berühmtesten Schweizer Wochenzeitung, "Die Nation" (Anm.2), stammte ebenso von Bill wie Flugblätter von Hilfsaktionen für die Opfer aus dem spanischen Bürgerkrieg.

Max Bill und die Geschwister Scholl

So war es bloss konsequent, dass Max Bill sich nach dem 2. Weltkrieg dem Wiederaufbau in Deutschland widmete. Die Amerikaner hatten ihn im Rahmen des Marshallplans mit einer Studie über die Zustände an deutschen Hochschulen beauftragt. Daraus ergaben sich Kontakte zur Familie der in München ermordeten Geschwister Hans und Sophie Scholl. Diese stammte aus Ulm, wo die Schwester Inge Scholl zusammen mit Otl Aicher kurz nach Kriegsende eine Volkshochschule betrieb.
Max Bill erbaute mit den kargen Mitteln, die zur Verfügung standen, die legendäre Hochschule für Gestaltung (hfg-ulm), die heute unter Denkmalschutz steht. In Ulm wollte er als Rektor die Ideen des Bauhauses, wo er 1927-29 studiert hatte, fortführen, wie wenn das Bauhaus nie von den Nazis geschlossen worden wäre. Doch das Hochschul-Experiment, für welches Walter Gropius, der Erbauer des Bauhauses in Dessau, Pate gestanden hatte, lebte nur 13 Jahre. Im Jahr 1968 wurde die HfG-Ulm vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger geschlossen – mit den Worten: "Für den Aufbau von etwas Neuem, bedarf es der Liquidierung des Alten". Diese Äusserung rief Erinnerungen an düstere Zeiten wach, umso mehr als Filbinger selbst ein ehemaliger Nazirichter war. Zwar hat der heutige Ministerpräsident, Günther Oettinger, erst unlängst versucht, Filbinger als „NS-Gegner“ darzustellen, doch dies scheiterte am öffentlichen Protest, der weit über die deutschen Grenzen hinaus zur Kenntnis genommen worden war.

Max Bill seinerseits hat Filbinger für die Schliessung der hfg-ulm nie verantwortlich gemacht. Er war selber allzu stark in die Widersprüche des Experiments verstrickt und sah die Ursachen des Niedergangs vielmehr in der Unfähigkeit des Rektoratskollegiums, das ihn nach seinem Weggang im Jahr 1957 abgelöst hatte. Denn das neue Schuldirektorium hatte sich exakt von jenen Bauhaus-Idealen distanziert, die Bill sowohl in politischer wie auch in kreativer Hinsicht fürs Leben geprägt hatten.
Bill hatte die ursprüngliche Bauhaus-Idee einer Grundlehre, die von allen Schülerinnen und Schülern, ungeachtet des jeweiligen Fachgebietes ihrer eigenen Wahl, obligatorisch besucht werden sollte, weiterhin beibehalten wollen, um so schon früh ein kreatives Netzwerk unter den Studierenden aufzubauen, die später dann  verschiedene Berufsrichtungen wählen  sollten.

Am Bauhaus in Dessau hatte er die politischen Gegensätze zwischen Links und Rechts, zwischen Fortschritt und Konservativismus, in aller Schärfe erlebt; und niemals wollte er aufgeben, was das Bauhaus ihm als ganz jungen Menschen auf den Lebensweg mitgegeben hatte: „Wer etwas für die Öffentlichkeit gestaltet, muss dafür gegenüber der Gesellschaft Verantwortung übernehmen“.

Die Verpackung wichtiger als der Inhalt

Diesen Grundsatz konnte die neue Generation bei der Produktegestaltung, auf der das Schwergewicht der hfg-ulm lag, immer weniger aufrecht erhalten. Denn die Zeiten änderten sich und mit ihnen die allgemeine Nachfrage. Konkret war in der aufkommenden Konsumgesellschaft immer weniger die Verantwortung für den Inhalt der gestalterischen Aufgabe gefragt als vielmehr die Tauglichkeit, das gestaltete Produkt vermarkten zu können. Oder einfacher gesagt: Die Verpackung wurde zunehmend wichtiger als der Inhalt.

Es ist vielleicht sein grösstes Verdienst, dass Bill sich diesem Diktat niemals unterworfen hat, auf keinem seiner Gebiete, weder in der bildenden Kunst, noch in seiner Lehrtätigkeit als Professor für Umweltgestaltung, noch in der Architektur (wo er konsequenterweise oft brotlos blieb), und auch nicht in den vielen anderen gestalterischen Aufgaben, die er wahrgenommen hatte. Einzig in real-politischer Hinsicht war er kompromissfähig.

Parlamentarier in Zürich und Bern

Die Erfahrungen in Ulm waren es, die Bill bewogen, selber in die Niederungen der alltäglichen Politik zu steigen, zuerst während mehrerer Legislaturperioden im Stadtparlament von Zürich, dann von 1967 bis 1971 im schweizerischen Nationalrat in Bern. Als zivilcouragierter Politiker kritisierte er in den USA den Vietnamkrieg schon in einer Zeit, als die europäische Öffentlichkeit für das Thema noch kaum sensibilisiert war. Gleichzeitig engagierte er sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung und beim Umweltschutz, wobei er damals noch von Umweltgestaltung sprach.

Die 68er-Bewegung in der Schweiz hatte Bill, in Unkenntnis seiner politischen Vergangenheit, missverstanden. Denn er hatte sich im Jahr der internationalen Jugendrevolten die Freiheit genommen, in einer Dankesrede zum Kulturpreis der Stadt Zürich vom "Behagen im Kleinstaat" zu sprechen, während draussen die Strasse nahe am Siedepunkt war. Doch Bill blieb radikal genug, um als Nonkonformist nicht nur mit seiner Kunst, sondern auch in politischer Hinsicht zu provozieren und zu polarisieren.

Zwischen Widerspruch und Poesie

Bill lebte im und vom Widerspruch, und oft war er selbst einer. Er liess sich nicht nur im Jahr 1936 einladen, den Schweizer Pavillon der Triennale in Milano zu gestalten, sondern folgte in den 70er Jahren trotz bedenklicher Menschenrechtslage auch einer Einladung von Schah Reza Pahlevi und Farah Diba in den Iran – und hoffte dort mit einer seiner Skulpturen einen Beitrag zum Aufbau einer Kunstsammlung des Museums of Contemporary Art zu leisten, die in der Tat auch im heutigen Mullah-Regime immer noch beachtlich ist. Bill war durch und durch rational, also alles andere als religiös, und dennoch musste er beseelt gewesen sein von einem unerschütterlichen Zukunftsglauben. Als die Achsenmächte die Schweiz eingekesselt hatten, und es rundherum bedrohlich war, exponierte er sich im Glauben an das Ephemere des Schreckens. Er war sich immer bewusst, dass es nicht nur das entsetzliche Deutschland gab, sondern auch ein anderes, das allerdings grossenteils emigrieren musste. So war es kein Zufall, dass Bill sich mit diesen Emigranten und ihrem Geist auseinander setzte und einigen von ihnen mit Liebe ein Denkmal schuf: als Albert Einsteins Geburtshaus in Ulm in Trümmern lag und die Aufräumenden die Türschwelle auf die Halde kippen wollten, lud er diese in den Wagen und fuhr damit in die Schweiz, wo er die Erinnerung aus Granit in seinen Garten legte. An der Stelle, wo er die Schwelle entnahm, steht heute eine Bill-Skulptur, das Monument aus rotem ukrainischen Granit für Albert Einstein.

Nebst dem erwähnten Denkmal für Ernst Bloch erarbeitete er für die Emigranten-Vorgänger Karl Marx und Georg Büchner wunderbare Modelle, die mangels Auftrag leider nicht zur Ausführung kamen. Eine seiner eindrücklichsten Archi-Skulpturen war schliesslich das Denkmal für den unbekannten politischen Gefangenen aus dem Jahr 1952. Es hätte begehbar sein sollen, von drei Seiten durch treppenartige offene Kuben, die auf einen kleinen Innenhof führten, wo in der Mitte eine schmale dreikantige Säule aus spiegelndem Material stand, in der sich jede Besucherin und jeder Besucher beim Eintreten selber einmal erblickt hätte, als könnte auch sie oder er einmal in jene Situation geraten, für welche das Objekt stand; es geht um einen Unbekannten, und man sieht sich selbst – welche Poesie! Obschon als Wettbewerbsarbeit in England „honourable mentioned“, blieb es leider ebenfalls bloss ein Modell.


Erich Schmid, der Autor dieses Katalogtextes ist auch der Regisseur des Kinofilms „bill – das absolute augenmass“, der während der Max Bill-Ausstellung in der Casa Rusca am 61. Filmfestival Locarno 2008 uraufgeführt wurde.


Quellen:
Manuskript von Angela Thomas „Mit subversiven Glanz“. Ihr Buch, eine Biografie Max Bills, (Band 1: 1908-1939) erscheint im Herbst 2008 im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
Peter Kamber, „Geschichte zweier Leben – Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin“, 1990 Limmat Verlag Zürich
Ernesto Nathan Rogers in: „Max Bill“, herausgegeben von Eugen Gomringer, Verlag Arthur Niggli, Teufen, 1958, S. 54


( 1 ) Typografischer Nachlass Max Bill bei Angela Thomas Schmid, Zumikon

( 2 ) "Er nannte sich Surava", Film von Erich Schmid 1995, "Abschied von Surava", Buch im Wolfbach Verlag Zürich 1996

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