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Geständnisse in Mamak

Texte zum Film


Prototyp einer begleiteten Massenausschaffung gescheitert

«Ab sofortiger Wirkung nur noch Touristen in der Türkei»

[Hintergrund: Sieben kurdische Familien mit Kindern protestierten ab Weihnachten 1990 in Flüeli-Ranft OW mit einem Hungerstreik gegen die Wegweisung in die Türkei.
Am 2. Mai 1991, im schweizerischen Jubeljahr, veranstaltete der legendäre Kaplan Cornelius Koch in Bern eine Pressekonferenz zur Situation der Flüchtlinge.
Im Anschluss daran wurden diese dort verhaftet, nach Sarnen überführt und tagelang in einem unterirdischen Bunker eingesperrt, bis sie mit einem Charterflugzeug nach Izmir ausgeschafft wurden.]

Von Erich Schmid, Izmir

Die dreieinhalbjährige Tuygu, die seit ihrer Ankunft in Izmir kaum mehr geschlafen hat, irrt seit Tagen auf den sechs Stockwerken des Hotels Katipoglu umher und stösst alle Zimmertüren auf, die nicht verschlossen sind. Sie schaut unter die Betten, in die Kästen, stösst weiter ins Badezimmer vor, schiebt schliesslich den Duschvorhang beiseite und stellt immer dieselbe Frage: «Wo ist meine Mutter?»

Ihre Mutter war am 2. Mai in Bern der spektakulären Verhaftung der Flüeli-Ranft-Flüchtlinge entgangen und befindet sich seither in einem Versteck irgendwo in der Schweiz. Ebenso die Mutter des achtjährigen Fatih. Die beiden in einem Charterflugzeug nach Izmir ausgeschafften Väter, Murat und Halil, drehen beinahe durch. Ihre geröteten Augen drohen jeden Moment aus den Höhlen zu quellen. Sie schauen die meiste Zeit ins Leere, sitzen einfach da, mal unten bei der Rezeption, mal oben im Esszimmer, oft bis morgens um vier. Sie vermissen ihre Frauen ebenso sehr wie die Kinder ihre Mütter. Sie sind depressiv und zusätzlich in realer Angst erstarrt. Jeden Augenblick könnte die Militärpolizei auftauchen und sie einziehen zur Nachholung versäumter Dienste. Ausserdem haben sie in der Schweiz den Artikel 140 des türkischen Strafgesetzbuchs verletzt, der Gefängnis fordert, wenn jemand die Türkei im Ausland verunglimpft. Ihr öffentlicher Hungerstreik und ihr Untertauchen in der Schweiz könnte jeder beliebige türkische Staatsanwalt entsprechend auslegen.

In noch grösserer Gefahr schweben die beiden Kurdenfamilien Deniz und Cicek. Sie stammen aus der Provinz Kahmaran Maras, wo das türkische Militär ein eigenes Gewaltregime mit Sondervollmachten eingerichtet hat. Weil sie zudem einer alevitischen Minderheit angehören, sind sie nicht nur als Kurden von türkischen Sicherheitskräften bedroht, sondern auch noch von fundamentalistischen Sunniten.

Um die enormen Risiken, mit denen eine Rückkehr dieser Menschen in die Türkei verbunden war, wusste auch das Bundesamt für Flüchtlingswesen (BFF). Nicht umsonst liess BFF-Direktor Peter Arbenz in Izmir auf eigene Kosten ein Hotel mieten und die Flüeli-Ranft-Flüchtlinge von einem Beamten seines Stabs vor Ort betreuen. Es war die erste begleitete Massenausschaffung von gefährdeten Kurden in die Türkei, gedacht als Prototyp für heikle Fälle.

Bild Elsaesser

BFF-Mann Marc Elsaesser droht dem Filmemacher Erich Schmid, einen gläsernen Aschenbecher in die Kamera zu werfen: 1991, im Schweizer Jubeljahr, aufgenommen im Hotel Katipoglu, Izmir, Türkei. Marc Elsaesser wurde später Leiter des Empfangszentrums für Asylsuchende in Kreuzlingen TG

Aber der Test war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Wie sollte der BFF-Begleiter Marc Elsässer in Izmir das Vertrauen der Flüchtlinge erlangen, nachdem ihnen Arbenz in aller Öffentlichkeit eine Rückkehr in Würde versprochen hatte?

Noch standen die vier Kurdenfamilien unter dem Schock der Verhaftung, noch hatten sie nicht vergessen, wie man ihnen wie Schwerverbrecher die Arme mit Handschellen auf den Rücken band, wie die Obwaldner Polizeibeamten den Kindern im unterirdischen Zivilschutzbunker-Gefängnis von Giswil sagten, ihre beiden Väter dürften spazieren gehen, sie stattdessen abführten ins Polizeigefängnis von Sarnen, ohne die Kinder zu benachrichtigen, welche die ganze Nacht weinten, weil ihre Väter vom Spazieren nie wieder zurückgekehrt sind. Hüseyin Deniz schmerzte noch immer das eine Bein, welches ein ausgerasteter Berner Polizist in seiner persönlichen Wut auf alles Fremdartige im Schweizerlande beim Hinaustragen in den Gefangenenwagen mit aller Kraft verdreht hatte. Und sie alle, einschliesslich der Kinder, hören in Izmir immer noch das unverhohlene Lachen der Beamten auf dem Transport von Sarnen zum Flughafen Zürich-Kloten, das in der allgemeinen Berichterstattung über die Sensation eines generalstabsmässig organisierten 60000-fränkigen Charters offenbar unterging.

Nach ihrer Ausschaffung, wen wundert's?, vertrauten die Flüchtlinge nurmehr den Begleitern der Solidaritätsgruppe Flüeli-Ranft, die sie seit sechs Monaten unterstützten. Vor diesem Hintergrund war BFF-Betreuer Elsässer in Izmir von Anfang an ein Aussenseiter; sein persönlicher Fehler war, dass er dies nicht erkannte und trotzig die erste Geige spielen wollte gegen den Willen der Menschen, die er hätte betreuen sollen. Seine Aufgabe, diese Menschen, die drei und mehr Jahre in der Schweiz gelebt hatten, in der Türkei zu reintegrieren, hätte eine Einfühlungsgabe erfordert, die dem polizeilichen Denken und Handeln des BFF abgeht. Und zudem unlösbar war der von der Schweiz mit in die Türkei transportierte Widerspruch zwischen der Sicherheit der Flüchtlinge, die niemand garantieren konnte, und der Verantwortung für sie, die jetzt niemand mehr tragen wollte.

Wieviele Male musste Elsässer die immer wiederkehrenden Fragen der Flüchtlinge mit dem immer gleichen stereotypen Satz beantworten: «Es gibt keine Garantie für eure Sicherheit, das haben wir nie versprochen.» Und wieviele Male musste sich der BFF-Beamte darauf die immergleiche Frage gefallen lassen: «Aber weshalb habt ihr uns denn überhaupt in die Türkei ausgeschafft, wenn es hier keine Sicherheitsgarantie gibt?» Die konsequente Durchsetzung ihrer Asylentscheide, die schweizerische Rechtsstaatlichkeit als Antwort galt hier in Izmir, wo konkrete Gefahren drohten, keine Lira mehr. Die kurdischen Familien, einfache Leute aus südostanatolischen Dörfern, konnten diese Art von rechtsstaatlicher Abschiebung auch von ihrer Herkunft her nie richtig begreifen; zwischen dem BFF und ihnen klaffte auch ein kultureller Abgrund. Die seit Jahrzehnten grausamsten Massakern ausgesetzten Aleviten hatten nämlich gelernt, dass sie nur mit starker Solidarität überleben können. Diese Tradition wurde ihnen schon in der Schweiz zum Verhängnis, als sich die Gruppe während des Hungerstreiks im Friedensdorf aus Solidarität weigerte, die offensichtlich unsorgfältigen Asylentscheide nochmals einzeln von der Caritas überprüfen zu lassen. Die damalige Weigerung verhinderte zwar eine Spaltung, forderte aber den hohen Preis von Versteck, Verhaftung und Ausschaffung, obschon mit Sicherheit mindestens die Asylgesuche von drei Familien einer Nachprüfung standgehalten hätten und mit grosser Wahrscheinlichkeit bewilligt worden wären.

Aber es war anders gekommen. Jetzt standen sie allesamt mit der Angst im Nacken in der Türkei: die Flüchtlinge, der BFF-Betreuer und die Solidaritätsgruppe Flüeli-Ranft. Erst jetzt, als sie vom vorübergehend gemieteten Hotel aus eine feste Unterkunft suchten, um sich in der Türkei rechtmässig anzumelden, stellte sich heraus, dass die fünfköpfige Familie Deniz nicht einmal über den dafür notwendigen Personalausweis verfügte. Es wurde ihnen allen erst in Izmir bewusst, dass das BFF die schriftenlose Familie in die Illegalität abgeschoben hatte. Und eine Ausreise in ein anderes Land war jetzt nicht mehr möglich, weil keine einzige der vier ausgeschafften Flüeli-Familien einen Pass besass und auch keine Aussicht hatte, einen zu bekommen. Denn die Beschaffung von Papieren für Schriftenlose ist in der Türkei eine derart heikle Angelegenheit, dass sich seit nunmehr drei Wochen zwei türkische Anwälte um die Personalausweise der Familie Deniz bemühen – bisher ohne Erfolg.

Gerät jemand in der Türkei ohne Ausweis in eine Polizeikontrolle, so erfolgt prompt die Verhaftung. Handelt es sich dabei um Kurden oder gar um Aleviten, so ist ihnen die Folter so gut wie sicher. Aus diesem Grund knüpfte Rechtsanwalt Ugur Olca unverzüglich ein Sicherheitsnetz mit Kontakten zum örtlichen Anwaltsverband, zum Menschenrechtsverein und den zugelassenen Parteien. Damit geriet er jedoch in Konflikt mit Elsässer, der im Gegensatz zu den Anwälten in jedem Aussenkontakt und jedem türkischen Pressebericht eine neue Gefahr für die Flüchtlinge heraufbeschwor. Schliesslich drohte er Ugur Olca, er, Elsässer, sei aufgrund seiner guten Kontakte zu den türkischen Behörden «jederzeit in der Lage», ihn, den türkischen Rechtsanwalt, «auszuschalten».

Inzwischen berichtete die Schweizer Presse aufgrund von BFF-Informationen aus Izmir, dass neue Mitglieder der Soligruppe aus der Schweiz mit einem türkischen Anwalt eingetroffen seien und die Flüchtlinge politisch steuerten. War es ein Zufall, dass die türkische Polizei zur gleichen Zeit einen der Ausgeschafften verhaftete, um ihn sieben Stunden lang mit gezielten Fragen nach den Drahtziehern der Solidaritätsaktion zu befragen? Es liess zumindest den Schluss zu, dass die politische Polizei das Geschehen im Hotel Katipoglu mit besonderem Interesse verfolgte. Und damit erhöhte sich die Gefahr tatsächlich.

Jetzt setzte Elsässer alles daran, um die einzelnen Familien so rasch wie möglich individuell unterzubringen und damit seine Verantwortung loszuwerden. Er drängte sie zur Abreise; manchmal unter der Drohung, falls sie länger bleiben, würden sie zu Opfern der Polizei. Dafür versprach er ihnen Kredite («Geld spielt keine Rolle») und Jobs bei schweizerischen und österreichischen Firmen. Der schriftenlosen alevitischen Familie bot er an, sie in ihre kurdische Provinz heimzubegleiten, jedoch nicht bis in ihr Dorf, sondern nur bis in die Distrikthauptstadt, von wo sie hätte alleine weiterziehen müssen. Hätte sie die Offerte angenommen, dann wäre sie ohne Schriften mit Sicherheit schon beim ersten der zahlreichen Checkpoints hängengeblieben. Elsässer verschwieg, dass ihre Herkunftsprovinz seit einiger Zeit im Ausnahmezustand ist.

Jedes Angebot, das die Familien ausgeschlagen hatten, schlachtete das BFF in der Schweiz prompt für einen Angriff auf die Solidaritätsgruppe aus, die eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Elsässer und den Flüchtlingen verhindere. Die Strategie war leicht durchschaubar. Je brenzliger die Situation dem BFF-Beamten erschien, insbesondere nach der ersten Verhaftung, desto intensiver suchte er die Verantwortung für das weitere Schicksal der Ausgeschafften auf den türkischen Anwalt und die Schweizer Soligruppe abzuschieben. Zum Schluss reiste ein weiterer BFF-Beamter, Beat Cadar, zur Unterstützung nach Imzir, vereinbarte mit der Soligruppe, den Flüchtlingen und dem Rechtsanwalt eine Reihe von Terminen, liess daraufhin die zwei letzten platzen und bestellte sie schliesslich in ein Hotel, um über das weitere Vorgehen zur Beschaffung der Ausweispapiere für die Familie Deniz zu sprechen. Als der Vater, Hüseyin Deniz, der Anwalt und die Soligruppe im Hotel erschienen, entschuldigte sich Cadar, der die Flüchtlinge zuvor immer wieder beschimpft hatte, er sei nicht gekommen, «um hier Theater zu spielen», dass sie beide heute keinen Anzug und keine Krawatte trügen und fuhr fort: «Aber ab sofortiger Wirkung sind wir nur noch Touristen in der Türkei». Als der türkische Anwalt eine Frage zu den Papieren stellte, drückten ihm die Bundesbeamten in Jeans und T-Shirt eine Pressemitteilung des BFF auf Deutsch in die Hand und gingen wortlos davon.

Erschienen in der WoZ, 1991


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